„Warum gehen Käfer nicht in die Kirche?“ – Weil sie Insekten sind!“ Dieses Zitat aus der Kafka-Aufführung im Theater an der Ruhr in Mülheim gibt bereits Aufschlüsse darüber, wie Regisseur Albrecht Hirche (Dramaturgie: Sven Schlötcke) Kafkas bekannte Erzählung „Die Verwandlung“ sowie „Das Urteil“ und „Brief an den Vater“ umsetzt – Absurdes Theater. Wer damit bisher nichts anfangen konnte, dem kann Hirches Interpretation der Verwandlung nur empfohlen werden. Kafkas starke Erzählung ist kreativ und aussagekräftig umgesetzt, wozu die Schauspieler einen entscheidenden Teil beitragen.
Der Zuschauer sitzt auf der Bühne – entsprechend klein ist das Bühnenbild gehalten, was aber seine Wirkung nicht mindert – und ist irgendwie Teil des Geschehens, was vonseiten der Schauspieler hinsichtlich des Publikums in leichte Bezirzung und Liebäugelei übergeht. Die Interaktion der Schauspieler mit den Theaterbesuchern verstärkt den komischen Unterton der Darbietung auf passende Weise. So sind die Charaktere stark überzeichnet. Die Mutter dick, toupiertes Haar, neonfarbener Nagellack, Sonnenbankbräune, hohe Hacken – außerdem leidet sie an Asthma. Die Schwester ebenfalls dick, hohe Hacken, aber eher mädchenhaft, ein Girlie. Auch der Vater ist dick, zu Beginn trägt er Lockenwickler im Haar, die Fingernägel lackiert. Was zu Kafkas Zeiten gutbürgerlich war, ist heute möglicherweise der Asi-Hartz-IV-Empfänger. Allerdings lebt Familie Samsa nicht auf Staatskosten, sondern hat mit Sohn und Bruder Gregor einen Ernährer, der als Vertreter arbeitet. Da Gregor sich allerdings in einen Käfer verwandelt hat, kann er dieser Sache nicht mehr nachgehen und möchte auch sein Zimmer nicht mehr verlassen. So beginnt die Geschichte, und obwohl Gregor in seiner Gestalt als Käfer für den Zuschauer recht putzig und faszinierend wirkt, ist die Familie gänzlich angewidert und hat nichts als Ekel für den Sechsbeiner übrig, sodass Gregor sich seiner selbst wegen zu schämen scheint. Währenddessen versucht Haushälterin Anna das Publikum von Gregors Widerlichkeit zu überzeugen, indem sie dem Publikum die Hinterlassenschaften Gregors, serviert auf einem Kehrblech, einem Zuschauer nach dem anderen, unter die Nase hält. Wenn der Familienernährer von heute auf morgen seine Funktion nicht mehr erfüllt, so wird er bloß noch als Ballast empfunden. Der Mensch in seiner Funktion steht in dieser Darbietung im Mittelpunkt. Auch die Haushälterin Anna erfüllt eine Funktion. Dies ist allerdings nicht ausreichend; sie wird von der Familie benutzt. Gregor und der Vater vergehen sich sexuell an ihr. Dennoch spielt sie ihre Rolle weiter. Aus Sicht des Zuschauers verhält sich die gesamte Familie merkwürdig und auch abstoßend. Seinen Höhepunkt erreicht dies als die Familienmitglieder zunächst recht harmlos, ein wenig spielerisch, beginnen sich gegenseitig Äpfel zuwerfen, ehe diese zu aggressionsgeladenen Geschossen transformieren, ganze Äpfel mit bloßen Händen zerdrückt, Apfelstücke gegessen, ausgespuckt, den anderen aus den Mündern gezerrt werden, bis der Boden, genässt von zertretenen Apfelstücken, dem verdutzten, man mag sagen leicht empörten, Publikum, eine Rutschpartie der Protagonisten beschert, sodass in dieser Demaskierung des Wahnsinns der Käfer als einzig normal gebliebener Mensch wirkt und somit bedauernswert in diesem Umfeld.
Gregors Chef, der Prokurist, sieht aus wie ein Reptil, was weder einem der anderen Darsteller auffällt noch irgendwem von ihnen zu stören scheint. Er erinnert ein wenig an die Hauptfigur aus „Die Maske“, in der Jim Carrey jene Hauptrolle spielt, nur dass der Prokurist weder die Maske noch seine Reptilienhandschuhe jemals auszieht. Sie sind Bestandteil seiner Person. Ausgerechnet er macht sich über Gregor lustig. Ihm ist nur sein Geschäft wichtig. Für die Gedanken und Sorgen eines Menschen wie Gregor hat er kein Verständnis und hält dies für dummes Geschwätz, Gefühle und Gedanken, welche er noch nicht einmal im Ansatz nachvollziehen kann.
Aber auch Gregors Käferanzug ist Bestandteil von Gregors Person, den er zu gerne ablegen würde. Nachdem der Vater, der bereits gewalttätig gegen Gregor wurde, diesen zum Tode verurteilt, ist für Gregor der Tod die einzige Möglichkeit das Käfersein zu beenden. Denn Gregor schafft es nicht seinen Identitätskonflikt zu lösen und wählt daher den Freitod, was in seiner Schluss-Arie deutlich wird. Er weigert sich zu essen und hungert sich schließlich zu Tode. Als nur noch Gregors Hülle übrig ist, hebt seine Schwester Greta ihn –diesmal ohne Ekel- auf und zeigt den anderen, wie dünn er doch war. Der Familie scheint eine große Last von den Schultern genommen zu sein – sie singen und tanzen und sind fröhlich. Nun steht Greta im Mittelpunkt. Sie hat abgenommen und hat sich herausgeputzt. Der Weg scheint für sie geebnet und die Welt, vor allem der männliche Teil davon, liegt ihr zu Füßen. Eigentlich war sie die Erste, die Gregor loswerden wollte und entsprechende Vorarbeit beim Vater leistete.
Das Kafkaeske dieses Stückes wird noch zusätzlich durch die gesanglichen Darbietungen bekannter Lieder durch sämtliche Darsteller unterstützt.
Ein Besuch dieser Inszenierung lohnt sich nicht nur, weil es sich um einen Schul-Klassiker handelt, sondern da die zeitlose Thematik hier kreativ und modern interpretiert wurde und ausreichend Raum für eine eigene Interpretation von Kafkas Werken lässt.
Die nächsten Vorstellungen sind am 24. September 2014 und am 30. Oktober 2014 jeweils um 18 Uhr. Karten gibt es hier.